Al-Meqdad
Jameel Meqdad

Schriftsteller und Politikwissenschaftler aus Gaza, der nach Rafah geflohen ist, während seine Familie im Flüchtlingslager Al-Shati im Norden blieb.

(1)

Auszug aus dem Gaza-Tagebuch: Ein Gedicht in der Hymne des Todes", veröffentlicht am 20. Oktober 2023.

(…)

Ich stand vor der Wahl zweier Möglichkeiten: entweder ging ich mit meiner Frau und meiner Tochter oder wir blieben, aber ich wählte das Schlimmere von beiden. Meine Frau ging in den Süden, während ich mit meiner Familie zu Hause blieb, mit meinen Eltern und Geschwistern. Mein sechzigjähriger Vater weigerte sich, das Unglück seines Vaters vor 75 Jahren zu wiederholen und sein Zuhause zu verlassen. Er sagte, dass „ich mein vorherbestimmtes Schicksal erleben und hier sterben werde“; so sagte er es.

Er überließ uns die Wahl und gab uns die Freiheit zu gehen, aber wer lässt seinen Vater im Stich, um zu sterben? Ich sagte ihm in aller Deutlichkeit, dass ich nicht gehen werde, bevor er geht, oder auf lokaler Sprache: "Fuß zu Fuß, und wenn alle gehen, gehe ich."

Wie ich bereits sagte, verändert der Krieg alles, während er selbst der gleiche bleibt. Jetzt stehen wir vor neuen Entscheidungen: ob wir getrennt sterben oder gemeinsam sterben. Meine Frau und meine Tochter sind gegangen, und ich bin bei meiner Familie geblieben, überzeugt von meinem unausweichlichen Tod. Wann? Warten wir ab.

Mein Herz blieb an dem kleinen Mädchen hängen, das ich vor wenigen Tagen zum ersten Mal gehen sah, während des Krieges. Ich sagte zu ihr: "Los geh los, oh Baba, komm schon." Ich freute mich, und sie freute sich über meine Freude. Ihre Schritte fühlten sich an, als würde sie zart auf meinem Herzen gehen. Deshalb dachte ich an sie. Werde ich sterben und sie zurücklassen? Wie würde es ihr ohne mich ergehen? Und wie würde sie die Erinnerung an die kurze Zeit mit mir bewahren?

Dies also ist die Gleichung, und dies sind die Optionen des Krieges, die sich unterscheiden, sich vervielfachen und uns zwischen mehr als einem Feuer stehen lassen, eines davon in unseren Herzen und das andere draußen, das Feuer der Raketen und Granaten und das Feuer des unendlichen Wartens...


(2)

Das Gedicht "Bedenke ein wenig, oh Tod", wurde als Teil einer Sammlung von Gedichten am 18. Oktober 2023 veröffentlicht.

 

Bedenke ein wenig, oh Tod

Nur für einen Moment unseren Zustand.

Betrachte unsere Augen,

Vielleicht waren sie blau oder grün,

Oder sie hatten etwas

von einer anderen Farbe.

Betrachte die Haare unserer Kinder unter den Trümmern,

Vielleicht gibt es hinter dem Weiß der Raketen

einen Hauch von Blond

oder sie sind geschmeidig genug,

um die Rauheit der Zelte auszugleichen.

Bedenke ein wenig,

die Körper unserer Frauen und Mädchen,

Vielleicht waren ihre Maße ein wenig modern

und vielleicht war ihr Haar frisiert

vor der Tragödie,

oder ihre Gesichter

vor dem Moment des Blutes

mit Schminke bedeckt.

Bedenke, oh Tod,

durchsuche unsere Hemden,

vielleicht findest du zwischen den Trümmern unter ihnen welche,

die wir von internationalen Marken gekauft haben.

Warte ab,

bevor du zuschlägst, um uns zu erwählen,

vielleicht waren wir westlich genug,

dass du gehen kannst,

und uns erlaubst,

unser Leben weiterzuführen,

auch wenn es nur für kurze Zeit ist.


 

(3)

Weiterer Auszug aus dem Gaza-Tagebuch: Ein Gedicht in der Hymne des Todes", veröffentlicht am 20. Oktober 2023. 

(...) 

Allein, ich räumte das Haus auf und sagte zu mir, es gibt zwei oder drei Möglichkeiten: entweder wird alles bombardiert und alles findet ein Ende, oder ich verlasse es und kehre später zurück, oder die Lage entwickelt sich auf gute Weise, und das Haus behält seine bescheidene, gewöhnliche Schönheit. Die letzte Möglichkeit war die schwierigste und am weitesten entfernte.

Ich habe den Teppich gereinigt und Regale abgestaubt. Von hier ging ich, um zu sehen, wo die Rakete eingeschlagen ist, die ich gehört habe. Ich brauche es sauber und ordentlich, um meine Ruhe zu finden, um den Tod anderer Menschen zu erkunden. Ich habe die ausgedehnten Pflanzen im Wohnzimmer und in der (hauseigenen)Bibliothek gegossen. Ich dachte an meine Frau, sie tadelte mich immer dafür, wenn ich vergessen habe, die Pflanzen zu gießen. Dieses Mal habe ich nicht vergessen, ich beschloss, alles richtig zu machen. Ich habe den kleinen Kaktus auf dem Schreibtisch gegossen, ich betrachte ihn immer. Der Kaktus repräsentiert uns. Er erzählt von mir, ich sehe ihn ihm all die Schwierigkeiten des Lebens, die in unseren Händen Dornen pflanzen, aber er bringt etwas Schönes von innen hervor, für das sich die Anstrengung lohnt.

Gaza, wie sehr hat uns diese Stadt erschöpft, sie ist unergründlich und schwer zu verstehen. Wer versteht seine Stadt? Liebt sie uns wirklich? Und warum stürzt sie uns jedes Mal in dieses Elend? Sind die Städte wirklich unsere Städte, in denen wir unsere Erinnerungen gesammelt haben, oder sind sie das Bild verborgener Feinde in unseren Erinnerungen, getarnt in schöne Momente?

Ich werde die Antwort nicht kennen, vielleicht werde ich der nächste an der Reihe sein im Tod, und vielleicht werde ich weiterleben und es trotzdem nicht wissen. Denn mir ist bewusst, dass wir in uns den Hass gegenüber unseren Städten und ihren Erinnerungen verbergen.

(Gaza ... unter Beschuss. Mühsam über das Telefon geschrieben, inmitten von Stromausfällen und dem Ausfall aller Kommunikations- und Internetmittel.)



(4)

Das Gedicht "Niemand wird mehr eine Stimme hören" wurde am 28. Oktober 2023 veröffentlicht.

Im Morgen erwachen wir

aus unserem vorübergehenden Tod  

um auf unseren endgültigen Tod zu warten...

Immer wenn ein Kind seine Augen öffnete  

erblühte ein Blatt eines Mandelbaumes 

Es schlief nicht lange und es starb nicht  

so sagt es der Baum...  

dann lacht es dem Leben mit einem weiten Herzen entgegen  

Jedes Mal, wenn eine Rakete einschlägt  

fliegen viele Vögel  

Hinter dem Rauch und den Wolkenresten  

begleiten sie ein weiteres Kind, welches vom Krieg entführt wurde  

Die Hand eines Kindes betrauern  

der am nächsten Morgen das Frühstück angeboten werden sollte...  

aber sie ist weg  

Am Abend  

Umhüllen wir uns mit dicken Decken  

nicht wegen der Kälte, denn die Temperatur ist normal  

Es ist der einfache Glaube, dass etwas wie Stoff  

uns beschützen könne  

wie die Helme der Soldaten vor den Kugeln  

Viele kleine Kinder schlafen Seite an Seite  

Sie sind erschöpft von langem Lachen  

vom Geschrei und gewöhnlichem Unfug  

Es ist in Ordnung, schlaft vor Erschöpfung  

vielleicht verweilt ihr schlafend  

vielleicht wird niemand mehr eine Stimme hören...  

aus euren zerbrechlichen Körpern  

sobald sie von den barbarischen Splittern durchdrungen sind  

fällt die Rakete

der Knall ertönt  

der Mann umarmt sein Kind  

kleine Mädchen weinen  

Die Mutter betet mit ihrem von Schmerz erfüllten Herzen  

und Worte schlafen langsam ein  

außer dem Ruf des Rufers auf der Beerdigung...

Wir verlieren einen Freund  

und weinen auf dem Platz der Leichenwaschung

schnell und nur für ein paar Minuten  

Kein Raum für längerer Trauer  

Das Leben muss weitergehen  

unsere Füße müssen sich ausruhen  

nach dem Laufen hinter den Särgen,  

um Weglaufen zu können, vor den Granaten, und und uns vor dem Tod zu retten

Einer nach dem anderen werden wir zu Särgen  

unter den Trümmern zusammengesammelt  

Stoffreste, die immer noch weiß sind  

Auch die Leichentücher konnten das Ausmaß des Geschehens nicht erfassen...

Der Märtyrer sagte:  

"Wir werden nicht gehen und diesen Ort nicht verlassen außer in den Himmel"  

Lasst sie die Beerdigung der Sprache nach ihm verkünden.



(5)

Passagen aus dem Text "Ich vermisse mein Zuhause", der am 28. Dezember 2023 veröffentlicht wurde.

(…)


Wir mussten vor dem Schrecken des Beschusses fliehen, der von der Artillerie abgefeuert wurden. Das Bombardement intensivierte sich plötzlich. Ein Haus am Anfang der Straße wurde zerstört, ein weiteres in der Mitte der Straße brannte nieder. Sie warfen Rauchbomben, die jeden im Haus fast ersticken ließen. Der entscheidende Moment rückte näher. Meine Mutter weint, mein Vater bricht zusammen, ein Berg der Sturheit, an dem er seit Beginn des Krieges festhielt, sich weigerte, das Haus zu verlassen, als würde er sich an seinen Vater erinnern, der 1948 aus dem Dorf Hamama ging, und er lehnte es ab, diese Haltung zu wiederholen. Die kleinen Kinder schreien, die Frauen befinden sich in anhaltender Angst, und wir Männer sind in schrecklicher Verwirrung, wir wissen nicht, was wir tun sollen.

Die Entscheidung zu fliehen ist gefallen. Wir beschlossen, unser Leben zu riskieren, um schnell zu entkommen, denn die nächste Granate könnte bereits über uns sein, und wir könnten, wie andere diesem willkürlichen Tod zum Opfer fallen. Mit großer Mühe erreichten wir ein anderes Gebiet, das wir für erträglicher und weniger tödlich hielten, doch dies ist in Gaza nicht der Fall; es gibt hier keinen weniger tödlichen oder erträglicheren Tod. In Gaza ist der Tod das Kennzeichen. Er hat viele Formen, Farben und Stimmen, aber er bleibt der Tod.

Am nächsten Tag beschloss ich die Flucht in den Süden, in die Stadt Rafah, wo ich Verwandte habe, die mich aufnehmen könnten. Ich ließ meine Familie zurück, meinen Vater, meine Mutter und meine Geschwister in Gaza, weil sie auf ihren Widerstand des Bleibens beharrten. Dies war der Moment meiner Abwesenheit von Zuhause; ein Moment, der lange andauert, und ich weiß nicht, wann er enden wird, ein Moment, von dem ich träume, dass er endet, ich schlafe ein und wache auf, und ich warte darauf, dass er sich nur als eine Illusion zeigt ...